Annemarie Avramidis
STEIN IST [IHR] MATERIAL
DOCH WAS [SIE] ZU SAGEN HAT
GEHÖRT DER WELT
BRAUCHT VERVIELFÄLTIGUNG
BRONZE.[1]
Versuch einer Annäherung an das ungemein vielschichtige Oeuvre der Bildhauerin, Zeichnerin und Lyrikerin Annemarie Avramidis
Bereits mit zwölf Jahren präzisierte Annemarie Persche, spätere Avramidis – Ehefrau des um siebzehn Jahre älteren Kommilitonen Joannis Avramidis – ihre berufliche Wunschvorstellung: Künstlerin wolle sie werden. Dictum, factum, gesagt, getan. Mit fünfzehn Jahren entstand an der Grazer Kunstgewerbeschule ihr erster lebensgroßer Marmortorso, mit achtzehn Jahren besuchte Annemarie Avramidis 1957 in Salzburg Oskar Kokoschkas “Schule des Sehens”. Kokoschka attestierte seiner eifrigen Schülerin ein großes Talent: “vielversprechend trotz Jugend”[2]. Ausgestattet mit diesem verheißungsvollen Prädikat und in bewusster Opposition zu ihrem berühmten Lehrer Oskar Kokoschka, der Fritz Wotruba als untauglichen Pädagogen mit oberflächlichem Hang zu Zeitmoden wie dem Kubismus abqualifiziert hatte[3], konnte Annemarie Avramidis 1958 in Wotrubas Meisterklasse an der Akademie der bildenden Künste in Wien eintreten. Schon bald durfte sie als einzige Frau in den illustren Zirkel der acht bis neun Meisterschüler Wotrubas aufrücken. Fritz Wotruba, bedeutender Repräsentant der Moderne in Österreich und maßgebliche Instanz der österreichischen Nachkriegsskulptur, beeinflusste die junge Studentin nachhaltig. Annemarie Avramidis wurde durch Wotruba dazu ermuntert, den Abendakt bei Herbert Boeckl zu besuchen. In weiterer Folge nahm sie das durch die menschliche Figur determinierte Vorbild ihres großen Lehrers zum universellen Ausgangspunkt für ein konsequent weiterentwickeltes Werk.
Von der wechselvollen Wirkungsgeschichte der archaisch-frühklassischen Skulptur Griechenlands, der griechischen Skulptur von der Spätarchaik bis zu Phidias, unglaublich fasziniert, reiht sich Annemarie Avramidis wie selbstverständlich in jene Gruppe von Künstlern ein, welche die Bauart archaischer Kuroi, den “antiken” Traditionsgehalt, nicht negierten. Aristide Maillol gehört hier ebenso dazu wie Laurens, Marcks, Zadkine, Duchamp-Villon oder der junge Willi Baumeister. Kuroi-Abgüsse bevölkerten die Ateliers von Auguste Rodin und Oskar Schlemmer. Fritz Wotruba lenkte Annemarie Avramidis’ unverstellten Blick ferner auf den strengen Torso-Stil Wilhelm Lehmbrucks.
Die Bildhauerin entwickelte rasch eine deutliche Präferenz für die Arbeit am Stein, eine den künstlerischen Prinzipien ihres Lehrers konforme Ästhetik des Steines. Annemarie Avramidis’ gestalterisches Credo steht dabei im Einklang mit Fritz Wotrubas unmissverständlichen Worten: “Das Material für den Bildhauer ist der Stein. Das Uralte in ihm, das in Jahrtausenden gewachsen ist und vielen Verwandlungen unterworfen war, zwingt zur Konzentration und zum Eigentlichen. Die Vorstellung einer Kunst, die Gesetz, Maß und Harmonie höher als andere Eigenschaften stellt, kommt durch den Stein ihrer Realisierung näher.”[4] Auch Annemarie Avramidis’ gelegentliche Manifestationen in Bronze, ihre Bronzeabgüsse nach Originalen in Marmor, können unter diesem Aspekt betrachtet werden.
Inhaltlich durchziehen das Motiv des “schlafenden Kopfes”, der Torso als zentrales Ausdrucksmittel und eine Vorliebe für das “Körper-an-Körper”-Thema (zum Beispiel im Doppelkopf Mutter und Kind) Annemarie Avramidis’ bildhauerisches Schaffen. Die “Körper-an-Körper”-Darstellungen rekurrieren zwar auf Brancusis Kuss-Stelen, räumen aber ihrer Realisierung mehr Räumlichkeit, Natürlichkeit und innere Flexibilität ein.
Nach einem ersten Exempel, der “Hommage für Brancusi” 1959-60, griff Annemarie Avramidis 1977 erneut das Thema der schlafenden Köpfe auf, meist unleugbare Reminiszenzen an die Köpfe der eigenen drei Kinder. Durch ihre Unterlebensgröße, das richtige Maß an vornehmer Zurückhaltung und das von spätarchaischen Koren entlehnte hoheitsvolle Lächeln wurde ein singulärer Ausdruck des Göttlichen kreiert – “schlafende Köpfe” als Metaphern einer unbegreiflichen, Vertrauen und Schauer gleichermaßen erweckenden Macht in einer irrealen Atmosphäre träumerischer Entrücktheit.
Torsi als signifikante Belege für eine Verdichtung der Form, des Ausdrucksgehaltes und der intendierten Aktion dominieren zweifelsohne das Oeuvre von Annemarie Avramidis. In ihren Torsi spiegelt sich symbolhaft die grundlegende Aussage der Künstlerin: “Wir haben den Menschen verloren. Wir haben das Wissen, das Können nicht mehr. Das Unvollendete muß heute für sich bestehen.”[5]
Neben ihren souveränen, individuellen und formal klaren Steinen und Bronzen schuf die Bildhauerin ausdrucksstarke Zeichnungen in zartem wie kraftvollem Duktus. Treffsicher in der bewegten Körpererfassung konkretisierte Annemarie Avramidis ihre Gestaltideen mithilfe von Aquarellen und Zeichnungen. Daneben finden sich freie Studien.
Mit acht Jahren begann Annemarie Avramidis, Gedichte zu schreiben. Stellvertretend für ihre Lyrik steht das freimütige Bekenntnis der Künstlerin:
Griechische Kore –
Und meine Leidenschaft
Lebt auf –
Der Augenblick der Zeit –
Der ohne Form vergeht –
Ist nicht gewesen –
Kristallisierte Macht –
Weist mich ans Werk –
Das ruhlos – auf mich
Wartet.[6] Andrea Schuster
[1] vgl. Willem Sandberg, zitiert nach: Christa Lichtenstern, “Annemarie Avramidis. Bildhauerin · Zeichnerin · Dichterin”, in: Ausstellungskatalog “Annemarie Avramidis. Skulptur · Lyrik · Zeichnung”, KunstKabinettImTurm, Grünstadt-Sausenheim 2010, S. 12-26, hier: S. 21
[2] Oskar Kokoschka, zitiert nach: Christa Lichtenstern, “Annemarie Avramidis. Bildhauerin · Zeichnerin · Dichterin”, in: Ausstellungskatalog “Annemarie Avramidis. Skulptur · Lyrik · Zeichnung”, KunstKabinettImTurm, Grünstadt-Sausenheim 2010, S. 12-26, hier: S. 12
[3] vgl. ebda, S. 13
[4] Fritz Wotruba, zitiert nach: Christa Lichtenstern, “Annemarie Avramidis. Bildhauerin · Zeichnerin · Dichterin”, in: Ausstellungskatalog “Annemarie Avramidis. Skulptur · Lyrik · Zeichnung”, KunstKabinettImTurm, Grünstadt-Sausenheim 2010, S. 12-26, hier: S. 15
[5] Annemarie Avramidis, zitiert nach: Christa Lichtenstern, Annemarie Avramidis, München 2005, S. 15
[6] Ebda, S. 9