Lesende oder Singende von vorne

Gustav Klimt

Wien 1862 - 1918 Wien

Lesende oder Singende von vorne

Studie im Zusammenhang mit dem Stoclet-Fries

Bleistift auf Papier

56 x 37 cm

Rechts unten Stempel: GUSTAV / KLIMT / NACHLASS

Strobl WV Nr. 3595

Provenienz:

direkt aus dem Nachlass des Künstlers, Privatbesitz, Österreich

Literatur:

Alice Strobl, Gustav Klimt. Die Zeichnungen. Bd. IV: Die Zeichnungen 1878-1918, Nachtrag, Salzburg 1989, Abb. S. 159, WV Nr. 3595

Zu Klimts Hauptwerken des Goldenen Stils zählt der von ihm entworfene Mosaikfries im Speisesaal des von Josef Hoffmann erbauten Palais Stoclet in Brüssel. 1910/11 wurde der Fries von der Wiener Werkstätte und der Mosaikwerkstätte von Leopold Forstner ausgeführt. Auf den beiden Längswänden stehen einander die Hauptgestalten der "Erwartung" (eine exotische Tänzerin) und der "Erfüllung" (ein sich umarmendes Liebespaar) gegenüber. Klimts zeichnerische Auseinandersetzung mit diesen Figuren samt ihren Vorläufern und Vorläuferinnen fand in mehreren Studienserien ihren Niederschlag und ließ sich von Alice Strobl bis 1904/05 zurückverfolgen.
Das hier gezeigte Blatt gehört zur herausragenden Serie von lesenden und singenden Frauen, die um 1907 ungefähr parallel zu einer großen Gruppe von schreitenden Aktfiguren entstand. Diese heroischen weiblichen Profilgestalten scheinen einem unsichtbaren Ziel zuzustreben, während die frontal dargestellten Singenden und Lesenden ganz in sich ruhen. Weder die eine, noch die andere Studiengruppe wurde für den Fries verwendet, doch beide Serien gehen den Studien für die Tänzerin der "Erwartung" und für das Liebespaar der "Erfüllung" voran. In ihrer Kontrastwirkung greift Klimt auf die Programmatik seines 1901/02 gemalten "Beethovenfrieses" zurück, in dem die horizontale Bewegung des Schwebens und Schreitens die Sehnsucht nach Glück vermittelt, während die Frontalstellungen – insbesondere bei den singenden Engeln der Paradiesszene – auf die innere Erhebung der Menschheit durch die Künste verweisen.
In letzterem Kontext ist auch die vorliegende Studie einer Lesenden oder Singenden zu sehen, deren introvertierte Mimik an den mysteriös verschlossenen Ausdruck der rhythmisch wiederholten Engelsgesichter erinnert. In dieser Zeichnung gehen Spiritualität und Monumentalität eine einmalige Verbindung ein. Mit schlichten, treffsicheren Bleistiftlinien umreißt Klimt die flächig projizierten Raumschichten der geometrisierten Hände, des rechteckigen Papierblattes, des lebhaft gemusterten Umhangs, des einfachen, langen Kleids und der nackten Schulterpartie. Mit großer Leichtigkeit differenziert er zwischen den Substanzen, den Lichtwerten und den Wirklichkeitsgraden. Die fehlende Erdgebundenheit der säulenhaft verankerten Frontalgestalt, deren Füße vom unteren Blattrand überschnitten werden, unterstreicht die feierliche Stimmung dieser Arbeit, die Klimt in einer der meist inspirierten Phasen seiner Zeichenkunst geschaffen hat.
Marian Bisanz-Prakken