Sitzender weiblicher Akt

Egon Schiele

Tulln 1890 - 1918 Wien

Sitzender weiblicher Akt

Bleistift auf Papier

44,8 x 28,9 cm

Rechts unten signiert und datiert: EGON / SCHIELE / 1913
Rückseitig rechts unten Nachlassstempel
Rückseitig links oben bezeichnet: 15000 22.2.61 Dr. Benesch
Rükseitig links unten bezeichnet: Maria Schiele

Kallir WV Nr. 1303

Provenienz:

Nachlass des Künstlers
auf dem Erbweg an Marie Schiele, Wien
Dr. Otto Benesch, Wien, 22. Februar 1961
Auktion, Dom-Galerie, Wien, 19. März 1973, Sale 1, lot 544
Auktion, Galerie Wolfgang Ketterer, München, 28. November 1976,
Sale 19, lot 1705
Privatsammlung, Deutschland
Auktion, Christie’s, London, 3. April 1990, lot 152
William Davis Fine Arts, New York
Privatsammlung
Auktion, Sotheby’s, New York, 6. Mai 2004, lot 318
dort erworben vom Vorbesitzer

Ausstellungen:

Wien, Galerie 10, „Von Schiele bis Leherb“, um 1970
New York, Gagosian Gallery, „Egon Schiele. Nudes“, 1994

Literatur:

Jane Kallir, Egon Schiele: The Complete Works. Erweiterte Auflage, New York 1998, Abb. S. 500, Nr. 1303

Zunächst beeinflusst von Gustav Klimt und der Jugendstil-Ästhetik, spielte Schiele in seinen Zeichnungen im Laufe seiner Karriere immer wieder zwei- und dreidimensionale Elemente gegeneinander aus. Das Verhältnis zwischen Positiv- und Negativraum sowie die Positionierung der Figur auf dem Blatt sind für seine Art der Bildkomposition von zentraler Bedeutung. Stets herrscht eine gewisse Spannung zwischen dem dreidimensionalen menschlichen Körper und der Flachheit der Bildebene; oft stellen Stoffe oder Kleidung die Verbindung dazwischen her.
Auf die ungestüme Hinwendung zum Expressionismus in den Jahren 1910 bis 1912 folgte 1913 eine vergleichsweise unaufgeregte Weiterentwicklung, wobei das Jahr eine der wesentlichsten und nachhaltigsten stilistischen Neuerungen in seiner künstlerischen Laufbahn mit sich brachte: Erstmals begann sich die dreidimensionale Modellierung gegenüber der zweidimensionalen durchzusetzen. Bei "Sitzender weiblicher Akt" handelt es sich um ein nicht koloriertes Werk; allein der Strich lässt die Figur plastisch erscheinen. Die geschwungenen Umrisse der Oberschenkel und Waden verweisen auf die darunterliegende Muskel- und Skelettstruktur, die Verkürzung von Nacken und Kopf verortet den Körper im Raum. Diese Zugeständnisse an eine wirklichkeitsgetreue Abbildung stehen jedoch im Widerspruch zu der den Körper umgebenden Leere und dem verwegenen Wechselspiel zwischen Figur und Blattrand. Zudem unterstreicht die Positionierung der Signatur als Gegenpol zum Rest der Zeichnung die zweidimensionale Ausrichtung der Komposition.
Verglichen mit Zeichnungen aus früheren Schaffensperioden weisen Schieles Akte aus dem Jahr 1913 einen engeren Bezug zu seinen Ölgemälden auf. Schiele interessierte sich nun eher für die weibliche Figur in ihrer symbolischen Funktion als "Jederfrau", deren Form angepasst werden konnte, um seine expressiven allegorischen Visionen zu bevölkern. Zu diesem Zweck konzentrierte er sich darauf, eine Reihe generischer Posen zu perfektionieren: stehend, hockend, liegend und so weiter. Obwohl "Sitzender weiblicher Akt" nicht in direktem Zusammenhang mit einem von Schieles Gemälden steht, ist das stilisierte Gesicht typisch für seine nun unpersönlichere Annäherung an das Modell.
Jane Kallir