Sitzende Frau

Egon Schiele

Tulln 1890 - 1918 Wien

Sitzende Frau

Bleistift auf Papier

45,9 x 29,4 cm

Rechts unten signiert und datiert: EGON / SCHIELE / 1917

Kallir WV Nr. 1999

Provenienz:

Privatsammlung Bunzl, Wien und London (vermutlich direkt vom Künstler erworben)
Liesl Bunzl Collection, Wien und London (im Erbweg von der Tante)
in der Familie weiter vererbt

Literatur:

Jane Kallir, Egon Schiele: The Complete Works, Erweiterte Auflage, New York 1998, Abb. S. 582, Nr. 1999

Nur wenige Tage nach der Hochzeit mit Edith Harms im Juni 1915 begann für Schiele die militärische Grundausbildung in der österreichungarischen Armee. Im Laufe der darauffolgenden eineinhalb Jahre hinderten ihn seine militärischen Verpflichtungen häufig an der Ausübung seiner künstlerischen Tätigkeit. Erst als er Anfang 1917 aus Mühling nach Wien zurückversetzt wurde, konnte er sein aktives Künstlerleben im Studio wieder aufnehmen. Da zwischen 1915 und 1917 kaum neue Werke entstanden, ist es schwierig, Schieles stilistische Entwicklung in diesen Jahren nachzuzeichnen. Es hat jedoch den Anschein, als hätte der Künstler mehr oder weniger dort weitergemacht, wo er mit dem Eintritt in die Armee aufgehört hatte. Die bereits 1913 erkennbare Tendenz zur wirklichkeitsgetreueren Dreidimensionalität prägte seine Werke ab 1917 noch stärker. Der Wechsel vom Bleistift zur dunkleren, schwereren Kreide ermöglichte es Egon Schiele, seine Modelle mittels weniger, durchgehender Linien abzubilden. Die in "Sitzende Frau" dargestellten weichen Rundungen des menschlichen Körpers, der wirre Haarschopf und das nur das Nötigste verhüllende Unterhemd zeugen von einer neuen Aufmerksamkeit für realistische Details. In der Zeit zwischen seiner Vermählung und der Rückkehr nach Wien diente ihm vorrangig seine Ehefrau als Modell. Allein, Edith Schiele genierte sich, nackt zu posieren, weshalb sie sich kaum je weiter als bis auf die Unterwäsche entkleidete, und selbst dann bat sie Egon bisweilen, ihre Gesichtszüge unkenntlich zu machen. Edith saß auch 1917 noch für Egon Modell, ist jedoch nicht immer eindeutig von den zahlreichen anderen Modellen zu unterscheiden, mit denen der Künstler in dieser Phase wieder zusammenarbeitete. Dass auch Ediths Schwester Adele Harms, die ihr sehr ähnlich sah, für Schiele Modell saß, erschwert die Identifizierung zusätzlich. Das kantige Gesicht und die nach oben frisierten Locken der "Sitzenden Frau" sind charakteristisch für einen weiblichen "Typus", der sich in etlichen Werken Schieles aus dem Jahr 1917 findet (WV 1977–1980, 1988, 1991–1998). Bei den abgebildeten Frauen könnte es sich sowohl um Edith als auch um Adele handeln, oder aber um eine Kombination aus beiden. Welche Schwester auch immer hier zu sehen sein mag, letztendlich lässt uns Schiele über ihre Identität im Ungewissen.
Jane Kallir