Sitzende Frau mit Hut

Egon Schiele

Tulln 1890 - 1918 Wien

Sitzende Frau mit Hut

Schwarze Kreide auf Papier

45,7 x 29 cm

Rechts unten signiert und datiert: EGON / SCHIELE / 1917

Kallir WV Nr. 1890

Provenienz:

Privatsammlung, Wien und London (vermutlich direkt vom Künstler erworben)
Sammlung Liesl Bunzl, Wien und London
im Erbweg zum Vorbesitzer

Ausstellungen:

(vermutlich) Wien, Galerie Würthle, Egon Schiele, 16. Oktober - 15. November 1928, Nr. 64

Literatur:

Jane Kallir, Egon Schiele: The Complete Works. Erweiterte Auflage, New York 1998, Abb. S. 570, Nr. 1890

Im Jahr 1917 macht sich, im Unterschied zu den Vorjahren, ein größerer Naturalismus im Werk Egon Schieles bemerkbar. Durch die vermehrte Verwendung von schwarzer Kreide
fällt seine Linienführung ebenmäßiger und kräftiger aus. Das Volumen und die Form seiner Figuren erfahren so eine besondere Gewichtung, wobei die Binnengestaltung durch
kurze, sanfte Linien erfolgt. „Die Figur ist doch das Wesentlichste, was mich am meisten erfüllt, der menschliche Körper.“ 1 Egon Schieles Worte, überliefert durch das Tagebuch seiner Privatschülerin Silvia Koller, verdeutlichen die Bedeutung, die der Künstler der menschlichen Gestalt beimaß. Die pure Körperlichkeit seiner Modelle, deren Gegenwärtigkeit sowie deren Beziehung zum Betrachter sind zentrale Punkte in seinem Œuvre. Die menschliche Gestalt wird vollständig aus dem räumlichen und sozial-narrativen Kontext herausgelöst. Die fehlende Verortung der Figuren, die unterschiedlich gewählten Perspektiven und das gezielte Hervorheben oder Weglassen von bestimmten Elementen sind auch 1917 noch bestehende Merkmale von Schieles Zeichenkunst. Im vorliegenden Blatt, das eine sitzende Frau zeigt, lassen sich die oben genannten Punkte gut nachvollziehen. Die Dame begegnet dem Blick der BetrachterInnen direkt und mit Selbstbewusstsein. Der Hut mit Schleife sitzt lässig schräg auf ihrem Kopf. Ihre Kleidung besteht aus einem hochgeschlossenen Kleid, dessen Streifenmuster Schiele nur an den Schultern und einem Ärmel andeutet. Oben sitzt die Kleidung ordentlich, das Haupt ist bedeckt und das Haar sorgsam hochgesteckt. Unten jedoch entblößt der hochgeschobene Rock das Bein, das die Dargestellte mit einem Arm umfasst hält, sowie die Unterwäsche. Der heruntergerutschte Strumpf bauscht sich locker um den Knöchel und gibt den Blick auf die nackte Haut frei. Die Linienführung ist kräftig und präzise, wodurch die geschlossene Form der Darstellung betont wird. An manchen Stellen lässt Schiele bewusst bestimmte Details weg, wie die fehlende Hand, die das Knie umfasst oder der locker herabhängende Arm, der nur mittels schneller Linien angedeutet wird. Dem gegenüber steht die Feinheit, mit der der Künstler die Gesichtszüge der Frau zu Papier bringt.
In der gelungenen Komposition der Dame mit Hut entpuppt sich Egon Schiele als Meister des spannungsreichen Spiels von Ver- und Enthüllung. Das erotische Motiv und der
Vorgang des Betrachtens selbst werden in seinem Werk zum Bildthema erhoben.

1 Ambrózy/Schröder, Egon Schiele, Ausstellungskatalog Albertina 2017, Wien 2017, S. 34