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HOLZSCHNITT WIEN AB 1900

Der Farbholzschnitt in Wien um 1900 – “erregendes Experiment”[1], “Spielfeld künstlerischer Fantasie”[2] oder doch nur “Zimmerschmuck”[3] mit reproduzierendem Charakter?

 

Eine klare Antwort auf diese provokative Frage liefert die 1904 im Juni-Heft der Zeitschrift “Dekorative Kunst” publizierte Abbildung des Toilettezimmers “für ein junges Ehepaar”[4]: Die Journalistin Berta Zuckerkandl, in deren geschichtsträchtigem Wiener Salon die künstlerische und geistige Elite des Landes verkehrte, erläuterte anhand des illustrierten Exempels eines exklusiven Wohnungsinterieurs die künstlerischen Prinzipien Kolo Mosers, des Mitbegründers der Wiener Werkstätte. Intarsierte Möbel aus edlen Hölzern, seidene Wandbespannungen, silberne Beleuchtungskörper mit geschliffenen Gläsern und schablonierte Wandmalereien schufen den adäquaten Rahmen für die in räumlicher Nähe angesiedelte Präsentation des von Gustav Klimt gemalten Porträts der Dame des Hauses – Gertrud Löw – und eines Farbholzschnitts von Carl Moll. Als “selbständiges Bildwerk”[5] steht dieser symbolhaft für die unbändige Lust und das Interesse an dieser ältesten grafischen Vervielfältigungstechnik, die beispiellose Kreativität ihrer Schöpfer und vor allem die hohe Wertschätzung, die dem künstlerischen Originalfarbholzschnitt im Wien der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entgegengebracht wurde.

Der Holzschnitt blickt auf eine lange und wechselvolle Geschichte zurück. Nach einem Höhepunkt in der Kunst der Renaissance, namentlich bei Albrecht Dürer, haftete ihm viele Jahre der Nimbus eines primär kopierenden und reproduzierenden Mediums an, ehe ihn Paul Gauguin ab etwa 1890 in Frankreich und Edvard Munch in Norwegen wiedererweckten. Deren künstlerische Pionierarbeit kulminierte in einer Blütezeit des Farbholzschnitts in Wien um 1900, bis die deutschen Expressionisten, und hier vorrangig die Protagonisten der Dresdner Künstlervereinigung “Brücke”, ihre Begeisterung für den Farbholzschnitt durch die Rezeption der Originaldrucke aus der Kunstzeitschrift “Ver Sacrum”, dem programmatischen Sprachrohr der Wiener Secessionisten, entdeckten.

Zwischen 1900 und 1910 erreichte der Wiener Farbholzschnitt eine ungeahnte Blüte, der bisher in der Kunstrezeption nicht gebührend Tribut gezollt wurde. Mit der von Tobias G. Natter kuratierten Ausstellung “Kunst für alle”[6] in der Schirn Kunsthalle Frankfurt und der Albertina Wien wird dieser Missstand deutlich nivelliert und das bisher vernachlässigte Thema in den Fokus des internationalen Ausstellungsgeschehens zurückgeholt.

Die Neuentdeckung des künstlerischen Originalfarbholzschnitts wurde durch mehrere Faktoren entscheidend beeinflusst. Zum einen durch die Wiener Secession, die, 1897 als “künstlerische Wasserscheide zwischen Historismus und Jugendstil”[7] konstituiert, in einer perspektivischen Öffnung über die engen nationalen Grenzen hinaus sowohl die aktuellsten europäischen Kunstströmungen programmatisch in ihrem Ausstellungsgebäude präsentierte als auch die Japonismus-Rezeption in Wien forcierte. Im Jänner und Februar 1900 war die VI. Ausstellung der Secession der Kunst aus dem “Land der aufgehenden Sonne” gewidmet. Die fast 700 Exponate religiöser, profan repräsentativer und populärer japanischer Kunst aus einer Wiener Privatsammlung inkludierten 150 Farbholzschnitte (“ukiyo-e”). Das Primat der Linie als grundlegende Struktur des japanischen Bildes, prononcierte Flächendarstellungen und eine Tendenz in Richtung Schwarz-Weiß wurden in der Folge stilbildend. Gustav Klimt besaß selbst japanische Farbholzschnitte, Emil Orlik gab sein während eines längeren Aufenthalts in Japan erworbenes Wissen um Holzschnitttechniken nach seiner Rückkehr 1902 in Kursen weiter.

Die “Vereinigung bildender Künstler Österreichs, Secession” hatte maßgeblichen Anteil an der Vorreiterrolle Wiens als “Tummelplatz für die graphischen Künste”[8] – nicht nur durch ihre progressive Ausstellungstätigkeit in dem von Joseph Maria Olbrich 1897-98 errichteten und von der Bevölkerung kontrovers diskutierten “Tempel für die Kunst” mit seiner ikonischen goldenen Kuppel (“Krauthappel”), sondern auch durch die Publikation einer eigenen Kunstzeitschrift mit dem richtungsweisenden Titel “Ver Sacrum” – “Heiliger Frühling”. In den letzten beiden Jahrgängen 1902 und 1903 wurden in “Ver Sacrum”, dem offiziellen Vereinsorgan der Wiener Secession, immerhin 216 als “Originalholzschnitte” bezeichnete Grafiken veröffentlicht.

Neben der Secession behauptete sich die Kunstgewerbeschule unleugbar als zweites Zentrum der Wiener Moderne. Felician Freiherr von Myrbach, der lange Jahre als Illustrator in Paris gewirkt hatte, wurde anfänglich als Professor an die grafische Abteilung der Kunstgewerbeschule berufen. Später, in seiner Direktion zwischen 1899 und 1905, positionierte sich die Schule neu. Von Myrbach nahm zahlreiche personelle Wechsel vor, besetzte vakant gewordene Lehrstellen primär mit Mitgliedern der Secession und installierte Werkstätten, die eine praktische Ausbildung in den einzelnen künstlerischen Techniken garantierten. Zudem waren – im Unterschied zur Akademie der bildenden Künste – bereits seit ihrer Gründung 1867 weibliche Studenten an der Schule zugelassen. Unter der Ägide von Kolo Moser und Alfred Roller, die beide seit 1899 an der Kunstgewerbeschule lehrten, Moser in der “Fachklasse für dekoratives Zeichnen und Malen”, Roller in der “Allgemeinen Abteilung und in der Abteilung für figurales Zeichnen”, setzte der Wiener Farbholzschnitt zum Höhenflug an.

1905, nach dem Austritt der so genannten Klimt-Gruppe aus der Secession (darunter Gustav Klimt, Josef Hoffmann, Kolo Moser, Otto Wagner und Carl Moll) kooperierten die Druckgrafikerinnen und Druckgrafiker mit der 1903 von Josef Hoffmann, Kolo Moser und dem Industriellen Fritz Waerndorfer gegründeten Wiener Werkstätte und der führenden Wiener Galerie Miethke. Eine enge Verbindung zwischen dem Farbholzschnitt in Wien um 1900 und der Wiener Werkstätte bestand sowohl unter formal-ästhetischem Gesichtspunkt als auch personell: Durch ihre Lehrer Josef Hoffmann und Kolo Moser erhielten die talentiertesten Schülerinnen und Schüler der legendären Kunstgewerbeschule lukrative Aufträge der Wiener Werkstätte. Gleichzeitig präsentierte Carl Moll als künstlerischer Direktor der Galerie Miethke die wichtigsten Protagonisten des Wiener Farbholzschnitts in wechselnden Ausstellungen: Rudolf Kalvach, Broncia Koller-Pinell, Carl Moser, Franz von Zülow oder – Carl Moll.

Diese unterschiedlichen Entwicklungsstränge wurden 1908 im Rahmen der von der Klimt-Gruppe verantworteten “Kunstschau” aus Anlass des 60. Regierungsjubiläums von Kaiser Franz Joseph geschickt gebündelt. “Auf der Kunstschau 1908 gab der Farbholzschnitt sein schönstes Stelldichein.”[9] “So präsentierte die Wiener Kunstschau 1908 ein Who-is-who der Wiener Farbholzschnittszene wie nie zuvor und nie wieder danach: […] Ludwig Heinrich Jungnickel, Rudolf Kalvach, Broncia Koller-Pinell, Carl Moll, Carl Moser […], Franz Zülow […] und andere.”[10] In seiner Eröffnungsansprache votierte Gustav Klimt für einen “erweiterten Kunstbegriff”, die Negation der Unterscheidung zwischen hoher und angewandter Kunst mündete umgekehrt in ein klares Plädoyer für die Aufwertung der Druckgrafik im Allgemeinen und des Farbholzschnitts im Speziellen.

In Personalunion von Maler, Holzschneider und Drucker, dem Ideal des “Peintre-Graveur”, entstanden in Wien die bekanntesten und originärsten Schöpfungen des künstlerischen Originalfarbholzschnitts, während in Japan die klassische Organisation der Herstellung eines Holzschnitts die Aufteilung auf zumindest drei, unter Umständen sogar vier Personen (mit dem Verleger) vorsah. Carl Moser, der hier exemplarisch angeführt werden soll, veränderte zum Beispiel für seine aufwendigen Farbholzschnitte die Druckstöcke immer wieder von neuem, ergänzte oder entfernte Platten und spielte virtuos mit Farbwirkungen.

Stilbildende Prinzipien des Wiener Farbholzschnitts, welche die Entwicklung der modernen Bildsprache zu Beginn des 20. Jahrhunderts forcierten, waren eine neue Empfindsamkeit für die Schönheit der Linie, die feine Ponderation der Gewichte (z.B. große, leere Farbflächen kontrastieren mit übervollen ornamentalen Zonen: Prinzip der “leeren Fläche”), eine Tendenz zu geschlossenen Farbkompartimenten und strenger Geometrisierung und das Wissen um Flächenstilisierung.

In thematischer Hinsicht rekurrierten die Künstler auf landschaftliche Motive aus ihrer unmittelbaren Umgebung (man denke nur an Carl Molls Ansichten aus Wien), Darstellungen von Personen spielten hingegen eine untergeordnete Rolle. Ebenfalls rar sind Blätter, die Szenen aus dem Alltag oder Arbeitsleben abbilden (Ausnahme: Rudolf Kalvachs Holzschnitte vom Triestiner Hafenleben). Elemente einer exzentrischen, überbordenden Phantasie, die im Bereich des “Grotesken” angesiedelt sind, fanden wie selbstverständlich Eingang in das motivische Repertoire (siehe Jungnickels Farbholzschnitt “Rauchende Grille”, irrtümlich als “Rauchender Ziegenbock” tituliert).

“Augenfällig am Wiener Farbholzschnitt sind Themen aus dem Reich der Tiere”[11],konstatiert Tobias G. Natter. Ludwig Heinrich Jungnickel trat zeitlebens explizit mit Tierbildern in den unterschiedlichsten Techniken hervor, bereits auf der Wiener Kunstschau 1908 präsentierte er seine ersten Farbholzschnitte. Ein signifikantes Merkmal von Jungnickels Tierdarstellungen ist die vom Künstler immer wieder angestrebte Kombination von Tiermotiven mit menschlichen Eigenschaften und Befindlichkeiten. Eine ausgeprägte inhaltliche Präferenz für Tierbilder findet sich auch einige Jahre später bei Norbertine Bresslern-Roth, die mit unverwechselbaren, einfühlsamen Tierbeobachtungen in der dem Holzschnitt verwandten Technik des Linolschnitts reüssierte. Vom 25. Oktober 2016 bis 17. April 2017 widmet die Neue Galerie Graz dieser bedeutenden Künstlerin eine Einzelausstellung.

Als Beispiele für künstlerische Techniken, die dem Holzschnitt adäquat sind, bieten sich neben der von Ludwig Heinrich Jungnickel praktizierten Schablonenspritztechnik (ohne Umrisslinien) und den Linolschnitten Norbertine Bresslern-Roths, bei denen die porenfreie Oberfläche des weichen, geschmeidigen Materials einen gleichmäßigen Farbauftrag erlaubte, die Papierschnittdrucke Franz von Zülows an. 1907 erhielt Zülow die Patenturkunde für das von ihm 1903 entwickelte, kräfteschonende Druckverfahren, in dem eine eingeschwärzte Schablone aus festem Papier die ausgeschnittenen Stege und Flächen abdruckt – und nicht wie beim Holzschnitt zum Übertragen der Umrisse verwendet wird.

In einem Brief an seinen Mentor, den Kunstschriftsteller und Kritiker Arthur Roessler, brachte Egon Schiele seine ambivalente Haltung zur Druckgrafik deutlich zum Ausdruck: “Ich weiß ja von Kollegen, daß [sic!] graphische Arbeiten leichter Abnehmer finden als Bilder, besonders wenn letztere über das beliebte ‘Zimmerschmuckformat’ dimensioniert sind – es möcht´ mich auch reizen, graphisch zu arbeiten, und zwar nicht nur des leichteren Verkaufes halber –, aber ich kann weder radieren noch in Holz schneiden, und diese Technik erst zu lernen, bin ich nicht geduldig genug. Denn in der Zeit, die ich zum Radieren einer Platte brauche, zeichne ich gut und mühelos fünfzig bis sechzig, ja mehr, gewiß[sic!]lich an die hundert Blätter.”[12]

Andrea Schuster

 


[1] vgl. Tobias G. Natter: “Die Blüte des Farbholzschnitts in Wien um 1900. Meilensteine und Vielfalt seiner Entwicklung”, in: Ausstellungskatalog “Kunst für alle. Der Farbholzschnitt in Wien um 1900”, Schirn Kunsthalle Frankfurt und Albertina Wien 2016-17, S. 12-32, hier: S. 32

[2] vgl. Max Hollein und Klaus Albrecht Schröder: “Kunst für alle. Vorwort”, in: Ausstellungskatalog “Kunst für alle. Der Farbholzschnitt in Wien um 1900”, Schirn Kunsthalle Frankfurt und Albertina Wien 2016-17, S. 6f., hier: S. 6

[3] Angelehnt an Egon Schieles Neologismus “Zimmerschmuckformat”, zitiert nach: Otto Kallir: Egon Schiele. Das druckgraphische Werk, Wien 1970, S. 14

[4] B. Zuckerkandl: “Koloman Moser”, in: Dekorative Kunst, Bd. 12, München 1904, S. 329-345, hier: S. 332

[5] vgl. Max Bucherer und Fritz Ehlotzky: Der Original-Holzschnitt. Eine Einführung in sein Wesen und seine Technik, München 1914, S. 36

[6] Die Ausstellung “Kunst für alle. Der Farbholzschnitt in Wien um 1900” wird in der Schirn Kunsthalle Frankfurt vom 6. Juli bis 3. Oktober 2016 gezeigt, daran schließt sich die Präsentation in der Albertina Wien vom 19. Oktober 2016 bis 22. Jänner 2017 an.

[7] Tobias G. Natter: “Die Blüte des Farbholzschnitts in Wien um 1900. Meilensteine und Vielfalt seiner Entwicklung”, in: Ausstellungskatalog “Kunst für alle. Der Farbholzschnitt in Wien um 1900”, Schirn Kunsthalle Frankfurt und Albertina Wien 2016-17, S. 12-32, hier: S. 15

[8] Karl M. Kuzmany: “Jüngere österreichische Graphiker. II: Holzschnitt”, in: Die Graphischen Künste, Jg. 31, Wien 1908, S. 67-88, hier: S. 69

[9] Tobias G. Natter: “Die Blüte des Farbholzschnitts in Wien um 1900. Meilensteine und Vielfalt seiner Entwicklung”, in: Ausstellungskatalog “Kunst für alle. Der Farbholzschnitt in Wien um 1900”, Schirn Kunsthalle Frankfurt und Albertina Wien 2016-17, S. 12-32, hier: S. 24

[10] Ebda, S. 23

[11] Tobias G. Natter: “Die Blüte des Farbholzschnitts in Wien um 1900. Meilensteine und Vielfalt seiner Entwicklung”, in: Ausstellungskatalog “Kunst für alle. Der Farbholzschnitt in Wien um 1900”, Schirn Kunsthalle Frankfurt und Albertina Wien 2016-17, S. 12-32, hier: S. 27

[12] Otto Kallir: Egon Schiele. Das druckgraphische Werk, Wien 1970, S. 14