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Der Triumph der künstlerischen Unersättlichkeit[1]

Betrachtungen zum singulären Werk des
österreichischen Bildhauers Bruno Gironcoli

Auf der heterogenen Spielwiese der zeitgenössischen Skulptur nimmt Bruno Gironcoli mit seiner unverwechselbaren, kryptischen und gleichsam anachronistischen Formensprache eine monolithische Stellung ein. Viele international beachtete monografische Ausstellungen im In- und Ausland, darunter der österreichische Beitrag zur Biennale in Venedig 2003, manifestieren Gironcolis ambivalente Rezeption. 2018 widmet das Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien seinem Oeuvre, das von den frühen filigranen Drahtobjekten über Polyesterarbeiten bis hin zu den gigantomanischen Skulpturen der letzten beiden Lebensjahrzehnte reicht, eine groß angelegte Präsentation. Dabei zollt die geplante Retrospektive im MUMOK der Tatsache, dass Bruno Gironcoli parallel zu seinen dreidimensionalen plastischen Äußerungen ein umfangreiches Werk von Zeichnungen und Arbeiten auf Papier schuf, den ihr adäquaten Tribut. Der Fokus unserer Ausstellung von Gironcolis Ausnahmekunst in der Galerie deckt ebenfalls die komplette Bandbreite seiner künstlerischen Produktion ab.

In den frühen 1960er-Jahren markierten Drahtplastiken Bruno Gironcolis eindrucksvolle Realisierung der für seine künstlerischen Anfangsjahre maßgeblichen Idee eines zeitgenössischen menschlichen Abbildes. Durch die Wahl der verwendeten Materialien und die angestrebte abstrakte, nicht dem Kubismus verhaftete Darstellungsweise versuchte sich Gironcoli vom übermächtigen Vorbild Fritz Wotrubas, des Doyens der österreichischen Nachkriegsskulptur, zu emanzipieren. “Wotruba […] hat maßgeblich die These des abbildbaren Menschen in den Vordergrund gestellt. Das hat mich sicherlich auch beeinflusst. Ich war aber nie bei ihm Schüler und habe ihn auch nicht gekannt.”[2] Wegweisend für Bruno Gironcolis künstlerische Karriere wurde seine Konfrontation mit den Werken Alberto Giacomettis. Nach einer abgeschlossenen Lehre als Gold-, Silber- und Kupferschmied und einem Studium der Malerei bei Eduard Bäumer an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien ging Gironcoli 1960-61 als Stipendiat nach Paris. Hier, im “Zentrum des Kunstbraukessels”[3], erhielt er am Ende seines Aufenthaltes den für ihn so entscheidenden künstlerischen Impuls: “Die Begegnung in Paris mit Giacometti – mir sind seine Zeichnungen aufgefallen […] Alles von ihm Gezeichnete trägt gleichzeitig den Raum in sich, indem er den Menschen abbildet, umfasst er auch den Umraum.”[4]

Bruno Gironcoli begann, sich mit der Literatur und Philosophie des französischen Existenzialismus auseinander zu setzen (Sartre, Beckett) und beschäftigte sich intensiv mit den Schriften der Frankfurter Schule, insbesondere mit Max Horkheimer. Wie für Horkheimer war für Gironcoli die menschliche Existenz eine leidvolle, die durch die Natur des Seins selbst determiniert ist.[5] In diesem Zusammenhang wurden die geschundenen, gequälten Körper der Opfer bei Gironcoli unter anderem durch die Sinnbilder von Tieren (Hunden), oft auch im Kontext der Sexualität, als Ersatzmetaphern für die eigenen Empfindungen angelegt.[6]

1961, nach seiner Rückkehr aus Paris, nahm Bruno Gironcoli sein Studium an der Hochschule für angewandte Kunst wieder auf – in der Metallbearbeitungsklasse von Eugen Meier. Es entstanden unzählige Akt- und Porträtstudien. “Ich habe gezeichnet und gezeichnet und habe eigentlich im Verlauf von zwei oder drei Jahren eine Veränderung in der Zeichnung erreicht. Immer bin ich vom Naturvorbild ausgegangen, das aber letztlich schon absurd war, da es, glaube ich, fast fetischhafte Form angenommen hat. Es war immer meine Ex-Frau, die sich mir zur Verfügung gestellt hat. Sie ist mir Modell gestanden, und ich habe gezeichnet. Aber eigentlich habe ich am Schluss nur mehr graviert. Ich habe Schlieren und Zeichen, die ich im Laufe des Zeichnens entwickelt habe, später für bestimmte Teile des darzustellenden Körpers verwendet – also Zeichen gesetzt, welche formal in sich tragen, dass man eventuell aus ihnen eine Figur machen kann. Darauf habe ich hin gearbeitet. Das heißt, ich habe freimütig oder böswillig eine Abstraktion begangen.”[7]

Ausgehend von diesen Bleistiftzeichnungen, in denen es Gironcoli nicht um eine “Psychologisierung, sondern um eine Architektur des Körpers”[8] ging, schuf er die schon angesprochenen Drahtplastiken mit ihrer Auffächerung der Form in Flächen – erst durch das Zusammenspiel der Flächen wird Form evoziert – und ihrem durch die Rahmung betonten bildhaften Charakter.

Nach 1964 kennzeichneten Polyester-Objekte mit ihren glatten Oberflächen und reduzierten Formen einen Wendepunkt in Bruno Gironcolis künstlerischer Entwicklung. Mit dem aus der industriellen Fertigung stammenden Werkstoff Polyester negierte Gironcoli die klassische Materialästhetik, Assoziationen zur englischen Pop-Art drängen sich auf[9]. In der Folge überzog der Künstler die von allen manuellen Bearbeitungsspuren befreiten Polyesterarbeiten mit silberner “Blitzofenfarbe” und imitierte dergestalt “edles” Material. Später wurde die koloristische Palette, die mit dem Aluminium und Bronze der Güsse korrespondierte, um Gold und Kupfer erweitert. “Ja, es täuscht das falsche Gold vor. Es täuscht die Aura von Dingen vor, die einmal königlich besetzt im Bildgeschehen existiert haben.”[10]

Nach dieser für Bruno Gironcolis künstlerische Entwicklung so wichtigen Phase der fast ausschließlichen Verwendung von Polyester für die zeitgemäße Darstellung des menschlichen Abbildes wurde Ende der 1960er-Jahre eine starke Veränderung in Gironcolis Begriff der Skulptur evident. Der Künstler arbeitete wieder mit sehr unterschiedlichen Materialien, zum ersten Mal wurden Gegenstände des täglichen Lebens wie Putzutensilien, Teller oder Besteck in die Herausbildung von in den Raum greifenden offenen Skulpturen, Installationen, integriert.[11] Bruno Gironcoli lud diese durch ihre Inszenierung stark tiefenpsychologisch auf, symbolträchtige Bedeutungsinhalte halfen ihm bei der Herauskristallisierung seiner ganz persönlichen Ikonografie.[12] Gewalt, Folter und Unterdrückung in Verbindung mit Sexualität wurden zusehends zentrale Themen von Bruno Gironcolis künstlerischer Arbeit.[13] “Gironcolis Objekte und Objektarrangements sind exakt hergestellt und sorgfältig abgestimmt. In den dafür vorgesehenen Räumen muten sie wie Teile von Inszenierungen an, erstarrter, in der Zeit arretierter Situationen, wo der Handelnde (der in den Zeichnungen auftaucht) eben das absurde Ambiente der Bühne verlassen hat. Was im Environment zur unmittelbaren Realität gerät, wird in der Zeichnung zum Bild, zur Choreographie des späteren Raums, wo sich der Betrachter des Arrangements gegenüber gleichsam aktiv zum Handeln oder passiv zum Erleiden aufgefordert sieht.”[14]

Die Übernahme der Leitung der Bildhauerschule an der Wiener Akademie der bildenden Künste von Fritz Wotruba 1977 markierte eine einschneidende Zäsur in Bruno Gironcolis künstlerischer Laufbahn. Auch durch die Möglichkeit nun großer Atelierräume bedingt, kompensierte Gironcoli die Idee des offenen Skulpturenbegriffs durch assemblageartige, extrem verdichtete Objekte. In den folgenden Jahrzehnten entstanden auf der Basis der bereits entwickelten künstlerischen Sprache seine monumentalen, altarähnlichen Großplastiken, durch die Gironcoli einem breiteren Publikum bekannt wurde.

Bruno Gironcoli entwickelte verschiedenste Module, die er für seine Plastiken in immer neuen Zusammenstellungen variierte. “Ich will zeigen, dass eine Figur aus Formen besteht, die, zusammen gesehen, der Figur eine Aura geben, die nur für diese Figur ‘prägnant’ ist. Es geht um schöne Tonfolgen und deren Harmonien, es geht um dreidimensionale Harmonien und auch um deren Dissonanzen.”[15] “Murphy”, nach einer Romanfigur von Samuel Beckett, als individuelle künstlerische Interpretation der menschlichen Figur, Babys, Engerlinge, Trauben, Weinblätter, Ähren, Löffel, Teller, Spiralen, Voluten, phallische und vaginale Formen konstituierten den Kern von Gironcolis künstlerischem Vokabular. Zu ihm gesellten sich die zentralen Themenkreise: Körperlichkeit-Sexualität, Fruchtbarkeit, Gebären, Vater-Mutter-Kind, Männliches-Weibliches-Androgynität, zwischenmenschliche Beziehungen.

Bruno Gironcolis bildhauerische Manifestationen und Grafiken ergänzen sich wechselseitig. Obwohl seine Zeichnungen und oftmals großformatigen Arbeiten auf Papier ihre Nähe zu konkreten Skulpturen und Installationen nicht verhehlen, erschöpft sich ihre Relevanz nicht in der Lösung technischer oder konstruktiver Probleme, in der reinen Skizzenhaftigkeit. Zudem wurde die in ihnen verwendete künstlerische Sprache kontinuierlich malerischer. 1990 zeigte Wilfried Skreiner in der Neuen Galerie am Landesmuseum Joanneum in Graz die erste umfassende Präsentation von Gironcolis Papierarbeiten, die im Anschluss an die Grazer Ausstellung in Klagenfurt, Zagreb und Ljubljana zu sehen war.

Gerhard Roth attestierte Gironcolis Skulpturen “Maßlosigkeit […] so als hätten Bewohner ferner Milchstraßen versucht, das Leben auf der Erde aus Fundstücken zu rekonstruieren”[16], Werner Hofmann glaubte sich in die “Remise eines Vergnügungsparks für Androiden versetzt”[17]. Bruno Gironcoli – ein “Morphologe der Maschinen”[18], ein “Dadaist im Zeitalter der biotechnologischen Reproduktion”[19], ein “Bildhauer aus dem vergangenen tausendjährigen chinesischen und elektrischen Zeitalter”[20] oder schlichtweg ein “Regent des Chaos”[21]?

 

Andrea Schuster

[1] vgl. Werner Hofmann, “Riesenspielzeuge”, in: Bettina M. Busse (Hg.), Bruno Gironcoli. Die Skulpturen 1956-2008, Ostfildern 2008, S. 8-10, hier: S. 8

[2] Bruno Gironcoli im Gespräch mit Sophie und Christa Zetter, 1994

[3] Maria Lassnig Tagebuch vom 16.6.1958, zitiert nach: Natalie Lettner, Maria Lassnig. Die Biografie, Wien 2017, S. 152

[4] Bruno Gironcoli im Gepräch mit Sophie und Christa Zetter, 1994

[5] Analog zu Bruce Naumans: “Mein Werk entsteht aus der Enttäuschung über die conditio humana” (Bruce Nauman, zitiert nach: Bettina M. Busse, “Gironcoli: Context. Versuchsanordnungen”, in: Ausstellungskatalog “Gironcoli: Context”, Orangerie, Unteres Belvedere, Wien 2013, S. 10-24, hier: S. 21)

[6] vgl. Bruno Gironcoli und Bettina M. Busse, “Interviews”, in: Bettina M. Busse (Hg.), Bruno Gironcoli. Die Skulpturen 1956-2008, Ostfildern 2008, S. 32-49, hier: S. 48

[7] Bruno Gironcoli im Gespräch mit Sophie und Christa Zetter, 1994

[8] Doris Krumpl im Gespräch mit Bruno Gironcoli, in: Der Standard vom 20.5.1997

[9] vgl. Harald Krejci, “Was macht den Menschen aus? Zum Frühwerk Bruno Gironcolis”, in: Ausstellungskatalog “Gironcoli: Context”, Orangerie, Unteres Belvedere, Wien 2013, S. 160-168, hier: S. 165f.

[10] Bruno Gironcoli und Bettina M. Busse, “Interviews”, in: Bettina M. Busse (Hg.), Bruno Gironcoli. Die Skulpturen 1956-2008, Ostfildern 2008, S. 32-49, hier: S. 37

[11] Der Terminus Entfremdung war für Bruno Gironcoli, der sich mit dem Existenzialismus und den kritischen Theorien der Frankfurter Schule beschäftigte, essentiell.

[12] Bettina M. Busse stellte den Konnex zur künstlerischen Position Joseph Beuys´ her (vgl. Bettina M. Busse, “Gironcoli: Context. Versuchsanordnungen”, in: Ausstellungskatalog “Gironcoli: Context”, Orangerie, Unteres Belvedere, Wien 2013, S. 10-24, hier: S. 15).

[13] Typische Elemente des Aktionismus wie das Ritual, die Opferung oder die Bedeutung von Tieren spielen in Bruno Gironcolis bildhauerischen Ausformungen ebenfalls eine wichtige Rolle.

[14] Peter Weiermair, zitiert nach: Bettina M. Busse, “Anmerkungen zur Vita Bruno Gironcolis”, in: Ausstellungskatalog “Bruno Gironcoli. Die Ungeborenen”, MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien 1997, S. 137-150, hier: S. 145f.

[15] Bruno Gironcoli und Bettina M. Busse, “Interviews”, in: Bettina M. Busse (Hg.), Bruno Gironcoli. Die Skulpturen 1956-2008, Ostfildern 2008, S. 32-49, hier: S. 35

[16] Gerhard Roth, Portraits, Frankfurt am Main 2012, S. 218

[17] Werner Hofmann, “Riesenspielzeuge”, in: Bettina M. Busse (Hg.), Bruno Gironcoli. Die Skulpturen 1956-2008, Ostfildern 2008, S. 8-10, hier: S. 9

[18] Lewis Mumford, Techniques and Civilization, New York 1934, S.9

[19] Beatriz Preciado, “Nach dem Organizismus. Gironocolis technosomatische Fiktionen”, in: Ausstellungskatalog “Gironcoli: Context”, Orangerie, Unteres Belvedere, Wien 2013, S. 60-65, hier: S. 61

[20] vgl. Bruno Gironcoli, “Texte des Künstlers”, in: Bettina M. Busse (Hg.), Bruno Gironcoli. Die Skulpturen 1956-2008, Ostfildern 2008, S. 177-205, hier: S. 204

[21] Gerhard Roth, Portraits, Frankfurt am Main 2012, S. 226